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Im Krieg verboten – gegen Demonstranten weltweit massiv eingesetzt: Tränengas & Pfefferspray

Im Krieg ist der Einsatz von Oleoresin Capsicum laut Genfer Konvention verboten. Umso erstaunlicher, dass der Wirkstoff im Konflikt zwischen der Polizei und Demonstranten bei Demonstrationen zum Einsatz kommen kann.

Die Tränenindustrie

Rio de Janeiro, Istanbul, Stuttgart: Wenn die Polizei gegen Demonstranten mit Tränengas vorgeht, verdienen Unternehmen mit. Wer sind sie?

© Osman Orsal/Reuters

Der Taskim-Platz in Istanbul, 28. Mai: Die Frau im roten Kleid wurde als "Lady in Red" zur Ikone des Protests.Der Taskim-Platz in Istanbul, 28. Mai: Die Frau im roten Kleid wurde als „Lady in Red“ zur Ikone des Protests.

Eine junge Frau im roten Sommerkleid steht vor einer Wand aus schwer gepanzerten Polizisten. Über die rechte Schulter trägt sie einen weißen Stoffbeutel. Ein Polizist macht einen Schritt auf sie zu, in der Hand eine Sprühpistole, ein Schwall Pfefferspray schießt ihr mitten ins Gesicht.

Lady in Red nennen die Türken die Frau heute,  ihr Bild ist eine Ikone. Geschossen hat das Foto der Reuters-Fotograf Osman Orsal während der Proteste auf dem Taksim-Platz. Ähnliche Bilder sind jetzt in Brasilien zu sehen, wo die Bevölkerung gegen Korruption und Verschwendung aufsteht. Auch hier: Polizisten, die Demonstranten mit Tränengas und Pfefferspray beschießen, um Protestgruppen aufzulösen und die Menge zu demoralisieren. 130.000 Reizgaspatronen soll die türkische Polizei allein in den ersten drei Wochen der Proteste verschossen haben, 100.000 sollen nun nachgekauft werden.
Doch was steckt hinter den Stoffen, die Augen tränen lassen? Die sofort den Drang auslösen, fliehen zu wollen? Wer stellt die Chemikalie her? Lies den Rest dieses Beitrags

Zwei Wochen Taksim von Özlem Gezer

Gezer Zur Großansicht

Carsten Koall/ DER SPIEGEL/Gezer
21.06.2013  | Von Özlem Gezer

Ich bin seit zwei Wochen in Istanbul und berichte über die Proteste in der Stadt. Als ich ankam, war der Taksim-Platz und der anliegende Gezi-Park noch „besetzte Zone“ der Demonstranten. Sie hatten alle anliegenden Straßen mit Barrikaden versperrt, ihre eigenen Sicherheitskräfte bestimmt und schützten ihre neu errichteten Stadtmauern. Im Herzen ihrer Proteststadt, also um den Gezi-Park, lief ich durch eine Art Demokratie-Museum, so fühlte es sich jedenfalls an. Linksradikale sorgten hier gemeinsam mit Nationalisten für die Sicherheit. Transvestiten liehen antikapitalistischen Muslimen ihre Decken. Wohlstandskinder gaben Essen aus für Obdachlose, die sie sonst wegscheuchen. Ich war schnell begeistert von dem geschlossenen Mikrokosmos der hier entstanden war, mit einer Konditorei im Zelt, einem Krankenhaus, Apotheke und Kindergarten, sogar Yoga-Stunden gab es. „Republik Capulcu“ – Plünderer, so hatte sie Erdogan getauft.

Ich habe selten bei einer Recherche so intensiv über Nähe und Distanz im Journalismus nachgedacht, mich an den Satz von Hanns Joachim Friedrichs erinnert, dass man sich als Journalistin nie gemein machen sollte mit einer Sache – selbst wenn man sie für eine gute Sache hält. Immerhin haben sie hier einen rechtsfreien Raum geschaffen, hatten Polizeiautos verbrannt, die Busse der Stadt zu Barrikaden umgebaut.

Die ersten Tage verbrachte ich 20 Stunden am Tag im Camp, manchmal mehr. Am fünftenTag nach meiner Ankunft in der Republik Capulcu war ich im Zelt der antikapitalistischen Muslime, am Eingang des Camps. Plötzlich rollten die Wasserwerfer und Bodentrupps auf den Taksim-Platz. Sie schossen Gasgranaten, jagten Demonstranten und sagten immer wieder, den Park werden wir nicht angreifen. Seid beruhigt. Über dem Park schwebten jetzt Gaswolken. Ich hatte keine Maske dabei, wir bekamen keine Luft, flohen Richtung Krankenhaus im Zeltlager. Jedes mal wenn es dumpf knallte, wurden danach Verletzte hineingetragen, auf einfachen Plastikplanen. Frauen mit schwersten Augenverletzungen, Männer mit verbranntem Oberkörper. Ich fühlte mich auch angegriffen. Ich sah jetzt jungen Polizisten bei ihrer Arbeit zu, wie sie mit der bloßen Hand Gas-Kartuschen in das Camp schleuderten. Das Camp, das sie nicht angreifen wollten.

Die Fronten waren geklärt, Distanz hin oder her, ich war jetzt auch ein Capulcu. Ich floh vor der Polizei, wurde fast festgenommen. Dieser Angriff war so unverhältnismäßig wie die Räumung, die dann wenige Tage folgte. Viel gewaltvoller, mit viel mehr Verletzten. Ich war unfassbar wütend. Auf Erdogan, der den Platz hier zu seiner Theaterbühne umfunktioniert hatte um dem Land seine Macht zu demonstrieren. Ich war wütend auf die türkische Presse, die das Thema einfach nicht richtig begleitete. Umso offener waren die Menschen der deutschen Presse gegenüber. Sie bedankten sich, dass wir sie nicht vergessen, dass wir hier sind. Ich hatte mit Kollegen jetzt eine Art Redaktionszimmer in unseren Hotelzimmern eingerichtet. Felix Dachsel schrieb für stern.de und „11Freunde“ und mit Deniz Yücel für die „taz“. Wir trafen auch Lenz Jacobsen von der „Zeit“.

Gemeinsam schrieben wir die Nächte durch. Diejenigen, die bislang nicht twitterten, so wie ich, fingen jetzt damit an. Wir mussten unsere Eindrücke einfach loswerden, schnell und unmittelbar. Nachdem ich zwei Wochen lang mit den Protestlern am Taksim-Platz verbracht hatte, besuchte ich gestern das erste Mal meinen Onkel. Er ist ein großer Erdogan-Fan. Er erklärte mir, dass ich vielleicht zu lange im Camp war, dass die Menschen dort aber nicht die Türkei repräsentierten. Mein Vater saß derweil in Hamburg und sprach von Revolution gegen den Sultan. Mein Cousin schlief im Protestzelt.

In der am Wochenende erscheinenden nächsten Ausgabe des SPIEGEL werde ich ausführlich beschreiben, wie dieser Konflikt auch meine Familie spaltet.

 

Quelle: http://shortr.de/gezer

Art Basel: „Erlaubt ist nur, was kontrolliert werden kann“ – oder das Ende eines Happenings durch Gummigeschosse und Tränengas

Polizei räumt auf mit der Kunstidylle

Polizisten in Kampfmontur räumen den Messeplatz: Screenshot aus dem Video der Schweizer Wochenzeitung „TagesWoche“ (© Tageswoche.ch)

POLIZEI RÄUMT AUF MIT DER KUNSTIDYLLE

Eine Protestaktion gegen das „Favela-Cafe“ der Art Basel auf dem Messeplatz wurde von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen geräumt. Ein Kommentar von Gerhard Mack.
// GERHARD MACK

Die Bilder waren in kürzester Zeit im Internet: Ein Truppe hochgerüsteter Polizisten in Kampfmontur und mit Schutzschilden stürmte auf den Basler Messeplatz, verschoss Tränengas und Gummigeschosse und räumte ein paar Holzhütten, die im Laufe des Tages errichtet worden waren. Ähnliche Gesten hatte man unter der Woche bei CNN aus Istanbul gesehen. Waren das wirklich Bilder aus Basel? Da feierte doch die Kunstwelt ihr rauschendes Fest. Was war geschehen?

Die Messe hatte Tadashi Kawamata eingeladen, zur Art Basel ein paar seiner bekannten Holzhütten auf den Messeplatz zu bauen. Sie bildeten ein wohlfeiles Gegengewicht zum coolen Neubau von Herzog & de Meuron und boten erst noch die Gelegenheit, ein Café einzurichten, das den Platz belebte und Besuchern der Kunstmesse eine Ruhepause ermöglichte. Dass das ganze offiziell als „Favela-Café“ firmierte, wurde je nach Gemütslage von Besuchern als arroganter Zynismus der abgeschotteten globalen Kunstwelt oder als Angebot zur Diskussion über Stadtraumgestaltung, Architektur, Armut und Reichtum bewertet.

Ein paar Kunstaktivisten nahmen die Idee zum Anlass, ihre eigenen Favela-Hütten aufzubauen. Favelas in der realen Welt wachsen schließlich auch. Eine Erweiterung war gewissermaßen ein organischer Akt auch in der Kunst. Das geschah weitgehend unter dem neugierigen Wohlwollen der Art-Aficionados. Da lief etwas, die Spontaneität der jungen Leute war wohl ansteckend. Eine Art Kunsthappening, das auf die bestehende Struktur reagierte und Diskussionen anregen wollte. Die Art Basel willigte in die Aktion ebenso ein wie der realisierende Architekt vor Ort, man einigte sich gemeinsam auf ein Zeitlimit von 17 Uhr.

Im Laufe des Abends veränderte sich der Charakter der Intervention in Richtung Party. Es gab Musik und Gegrilltes. Gegen Abend wuchs die Gruppe von rund 20 Aktivisten auf 100 Teilnehmer an, die Zusammensetzung änderte sich. Es ging nicht mehr um ein kulturelles Projekt. Man tanzte. Es war laut, aber friedlich.

Die Messe Schweiz gab sich konziliant, verlängerte mehrmals das Ultimatum. Um 21 Uhr stellte sie dann einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch und Belästigung. Eine Stunde später rückte die behelmte Polizeitruppe an. Die meisten Feiernden zogen sich schnell zurück, einige wenige warfen Flaschen, Stühle und Farbbeutel. „Die Versuche seitens MCH Messe Basel eine gemeinsame und gütliche Lösung zu finden, konnten nicht umgesetzt werden“, begründet die Messe ihre Anzeige. Sie ist für die Sicherheit des Platzes verantwortlich und habe später nicht gewusst, mit wem sie es zu tun hatte.

Das mag rechtlich so sein. Ungeschickt war der Schritt aber allemal. Gefeiert wird in Städten immer mal laut und verbotenerweise. Da hilft es nicht, die Polizei stürmen zu lassen. Und verloren hat dadurch vor allem die Art Basel. Was ein großes Fest der Gegenwartskunst hätte sein können, ist nun mit hässlichen Bildern der Gewalt verknüpft. Die Kunstwelt schreibt sich gerne Toleranz auf ihre Fahnen. Da sollte es auch möglich sein, dass ihre Akteure sie für ein paar Stunden selbst praktizieren. Sonst setzen sie sich dem Verdacht aus, dass nur erlaubt ist, was sie kontrollieren können. Kein Wunder, dass Dorothee Dines, die Pressesprecherin der Art Basel, sagt: „Wir bedauern sehr, was passiert ist.“ Sie weiß, dass auch eine große Marke schnell beschädigt ist.

 

Veröffentlicht am 14.06.2013

Protest gegen Erdogan: Türkei geht das Tränengas aus – Massive Kritik am Tränengaseinsatz

page_gewalt_17062013Immer mehr Türken bringen den Protest gegen den autoritären Kurs ihrer Regierung durch stundenlanges Stillstehen zum Ausdruck. Nach wochenlangem harten Einsatz gegen Demonstranten hält sich die Polizei überwiegend zurück. Allerdings wird auch das Tränengas knapp.Der stille Protest gegen die Regierung des islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat die Spannungen in der Türkei zunächst verringert. Die Polizei ging am frühen Mittwoch in der westanatolischen Stadt Eskisehir aber mit Wasserwerfern und Tränengas gegen weitere Proteste vor, berichteten Aktivisten. Inzwischen nutzen immer mehr Menschen die neue Form des Protests: Sie stehen stundenlang einfach nur still.

Bei den Demonstrationen der vergangenen drei Wochen hat die Polizei 130 000 Patronen mit Reizgas verschossen, wie eine türkische Zeitung berichtet. Es sei nun geplant, kurzfristig 100 000 Patronen Tränengas und Pfefferspray zu beschaffen, um die Bestände aufzufüllen, berichtete die Zeitung „Milliyet“. Als Teil einer Ausschreibung sollten zudem 60 Wasserwerfer beschafft werde.

 

Tränengas-Einsatz wird international kritisiert
Der massive Einsatz von Tränengas gegen Demonstranten ist international als unverhältnismäßig kritisiert worden. Zudem wird verurteilt, die Polizei habe gezielt und auf kurze Distanz direkt auf Demonstranten geschossen und Tränengasgewehre damit praktisch wie scharfe Waffen eingesetzt.In der Nacht zum Mittwoch kam es in Eskisehir zu stundenlangen Zusammenstößen, berichteten Aktivisten im Internet. Die Polizei habe von Demonstranten errichtete Barrikaden geräumt und ihre Wasserwerfer auch auf Wohnungen gerichtet, in die sich Demonstranten geflüchtet hätten. In der etwa 600 000 Einwohner zählenden Stadt gab es in den vergangenen Wochen mehrfach Demonstrationen gegen die Regierung.

Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul waren bis in die Nacht mehrere hundert schweigende Menschen versammelt, wie Augenzeugen sagten. Sie protestierten gegen die aus ihrer Sicht autoritäre Regierung und die Polizeigewalt der vergangenen Tage. Am Mittwoch standen weiter einige Menschen aus Protest still. Ein türkischer Choreograph hatte in der Nacht zum Dienstag als „Stehender Mann“ stundenlang auf dem Taksim-Platz verharrt und damit die neue Protestform initiiert.

Die landesweite Protestwelle hatte sich an der brutalen Räumung eines Camps von Demonstranten im Gezi-Park in unmittelbarer Nachbarschaft des Taksim-Platzes entzündet, das am vergangenen Wochenende zum zweiten Mal geräumt wurde. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne mit Wohnungen, Geschäften oder einem Museum.“

(Quelle: http://www.fr-online.de/tuerkei/protest-gegen-erdogan-tuerkei-geht-das-traenengas-aus,23356680,23439250,view,asFirstTeaser.html